Als die Impf-Kampagne der türkis-grünen Bundesregierung anlief, galt man nach zwei Impfdosen als „vollimmunisiert“. Während bundesweit demnächst auch bei vielen dreifach Geimpften der „Grüne Pass“ abläuft, kokettieren erste Epidemiologen bereits mit einer vierten Dosis für die gesamte Bevölkerung. Über all dem schwebt weiterhin das Damoklesschwert der Scharfstellung der Impfpflicht.
Krems. – Im Interview mit dem öffentlich-rechtlichen ORF bekundete Gerald Gartlehner von der Donau-Universität Krems: „Jeder und jede sollte irgendwann über den vierten Stich nachdenken. Personen, die vulnerabel sind, besser früher als später. Aber wir sollten alle vor dem Herbst den zweiten Booster irgendwann bekommen.“ Damit solle sich die Bevölkerung auf eine noch unbekannte epidemiologische Lage in den kalten Monaten vorbereiten. Auch die Anwendung der Impfpflicht wäre dann möglich.
Rückläufiger Schutz nach wenigen Monaten
Bei Risikogruppen sähe Gartlehner den richtigen Zeitpunkt für das nächste „Jaukerl“ sofort. Dies hält er für notwendig, weil Studien darlegen würden, dass „der Schutz nach drei Impfungen nach vier Monaten relativ schnell wieder nach unten geht.“ Für alle anderen gebe es „hoffentlich im Herbst eine angepasste Impfung, die uns auch gegen Omikron besser schützt“.
Gartlehner kokettiert mit scharfer Impfpflicht
Auch die Scharfstellung der Impfpflicht kann er sich vorstellen – und zwar dann, wenn eine andere Mutante als Omikron vorherrscht: „Wenn weiterhin Omikron dominant ist, dann werden wir die Impfpflicht mit großer Wahrscheinlichkeit nicht brauchen. Wenn eine neue Mutation auftritt, dann muss das neu bewertet werden und dann muss vielleicht auch die Impfpflicht kommen.“
Diese Einschätzung ist besonders deshalb beachtlich und alarmierend, weil Gartlehner eine jener Stimmen war, die im Jänner eine Neubewertung des staatlichen Spritzenzwangs forderten. Dies begründete er damals mit der wachsenden Hintergrundimmunität durch Omikron. Einen vierten Stich empfahl er damals bestenfalls für vulnerable Personen und Mitarbeiter der Gesundheitsberufe. Ohne eine andere Variante brauche die restliche Bevölkerung aber keine ständige Auffrischung.
Auffrischung bei neuer Variante
Von dieser Meinung rückt er nun allmählich ab. Im Sommer könne man wohl abschätzen, welche Variante im Herbst vorherrschen wird. Derzeit erreicht die relativ milde Omikron-Variante erreicht derzeit zahlreiche Personen – und zwar unabhängig ihres Impfstatus. Die 7-Tages-Inzidenz ist sogar bei Personen, die sich nur auf die Vakzine verließen, höher als die Reinfektionsgefahr von Personen nach jedweder Genesung.
Gartlehner glaubt nunmehr, dass ein einzelner zusätzlicher Stich ausreichen würde, weil 90 Prozent der Bürger „irgendeine Form“ der Immunität besäßen. Dieser würde „relativ rasch die Bevölkerung auf ein gutes Immunitätsniveau bringen“. Wie viele – womöglich staatlich verpflichtende – Stiche er von Personen verlangen würde, die bislang sowohl Impfung als auch Virus vermieden, ließ er nicht anklingen.
Deutscher Experte warnt vor Immunsystem-Sättigung
Seine Einschätzung, dass ein „zweiter Booster“ einen sinnvollen, messbaren Effekt hätte, ist längst nicht unumstritten. In der deutschen Impfpflicht-Debatte verfasste der bekannte Epidemiologe Andreas Radbruch eine Stellungnahme an den Bundestag, in welcher er den Sinn dauerhafter Boosterungen in Frage stellte. Auch einer Impfpflicht erteilte er eine klare Absage, weil diese nicht geeignet sei, die Infektionslast innerhalb der Bevölkerung zu senken.
Ein Mitgrund für dieses Plädoyer war seine Sorge vor einer Sättigung des Immunsystems: „Es gibt spätestens nach der 5. Impfung keinen Schutz vor Infektion durch das Boostern.“ Bereits nach dem vierten Stich betrage er nur 11-30 Prozent, dieser Schutz sei zudem relativ kurzfristig. Gleichzeitig gäbe es bei 80 Prozent der Impflinge lokale und bei 40 Prozent systemische Nebenwirkungen. Eine Pflicht zu einer unbestimmten Anzahl von Stichen hält er daher für nicht verhältnismäßig und nicht zielführend.

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